Wie Corona unsere Gesellschaft weiter spaltet – und die Nach-Corona-Zeit sich nur verschwommen abbildet. Ein Essay von Verleger und Publizist Wolfgang E. Buss.
Alles scheint ein wenig unwirklich.
Verändert sich unsere Gesellschaft tatsächlich gerade in ihrem Verhalten, ihren Werten, ihrer Fähigkeit zu vertrauen? Oder ist sie künstlich ins Koma gelegt und hofft auf baldige Genesung, um dann – nach der „OP“ – mit noch mehr Elan die Zukunft zu genießen?
Eine spannende Frage, die Antworten sind äußerst diffus, auch in den Gesellschaftswissenschaften. Als sicher gilt derzeit nur, wir verharren in einer nach 1945 nie mehr erlebten Unsicherheit. Was zur Folge hat, dass sich diese Gesellschaft weiter spaltet.
Man könnte uns als eine gekränkte Gesellschaft beschreiben, die in ihrer Selbstüberschätzung glaubte, Krisen wie diese könne es gar nicht mehr geben. Oder, dass sie sich mit KI, 5G und Turbodigitalisierung lösen ließe. Wir wurden in den Glauben versetzt, Teil einer fast unverwundbaren Gesellschaft zu sein, in der Politik und Medien nur noch letzte entscheidende Fragen abzuarbeiten hätten. Ganz im Vordergrund das „gendern“ mit dem „Gendersternchen“. Wenn wir nur alle brav von „Mörderinnen und Mördern“ oder den Sternchen-Glugslaut bei „Schwarzfahrer*innen“ aussprechen können, seien auch die letzten Hürden genommen.
Doch dann kam Corona, und nichts ist mehr so, wie es war.
Wenn, wie oben schon angedeutet, einer Gesellschaft das Vertrauen schwindet, ist dieser Prozess begleitet von vielen Versuchen diverser Gruppen und Denkrichtungen, die Meinungshoheit zu erlangen. Als Verstärker dient dabei, dass seit Februar 2020 quasi eine Enttäuschung der nächsten folgte. Was wurde uns Deutschen in diesem letzten Jahr nicht alles politisch versprochen, erklärt oder wissenschaftlich begründet. Es meldeten sich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen zu Wort. Das Ergebnis ist unsere Ratlosigkeit. Wissen Sie noch, wem Sie glauben oder vertrauen sollen?
Vielleicht noch den gut informierten Freunden und Familienmitgliedern, die früher gute Erklärungen beitragen konnten? Doch auch sie haben sich bereits in Meinungs-Gruppen fragmentiert und in – kommunikationswissenschaftlich „Echokammern“ genannt – aufgeteilt. Was und wo soll man lesen, hören, schauen, um zu erfahren, was wirklich ist. Jede Quelle, jeder Politiker hat Vertrauen eingebüßt. Oder versucht, der jeweils anderen Meinung die Glaubwürdigkeit zu entziehen. Schnell waren Begriffe wie Regierungsfernsehen, Mainstream-Medien, Fake-News, Querdenker, Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner Teil des Sprachalltags.
Ebenso wenig homogen ist die Perspektive für die Zukunft, der Nach-Corona-Ära. Die Krisengewinner entwickeln eine andere Sicht als die Verlierer. Manch Gewinner wurde von Zufällen in den Olymp gehievt – hätten Sie geglaubt, einmal mit FFP2-Masken Millionär werden zu können?
Werden wir in Zukunft wieder genauso in unsere Läden zurückkehren und unser Einkaufserlebnis genießen wie eh und je? Werden wir nach Corona wieder gerne das Homeoffice verlassen, um zurück ins Büro zu kommen und den Kollegen in der Kaffeeküche mitzuteilen, dass man das „Dschungelcamp“ am Vorabend unmöglich fand? Werden wir wieder zu Meetings um die Welt fliegen, um mit dem Lufthanse-„Senator“-Status heimlich bewundert zu werden oder im Lufthansa- „HON-Circle“ in der First schon Gott-ähnlich zu erscheinen? Scheinbar bedeutungslose Fragen, die aber entscheidend sein werden für das Überleben großer Branchen.
Wie sieht die Welt in fünf Jahren aus? Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass Corona, bis alle 7,8 Milliarden Menschen geimpft sind, in vielen Regionen wieder ausbrechen wird. Das aber würde für nachhaltige Veränderungen beim Reisen wie in anderen Lebensbereichen sprechen.
Unabhängig von unserem Konsumverhalten gibt es noch die „weichen“ Faktoren: Wie entwickelt sich das gesellschaftliche Klima nach Corona? Wird sich im kollektiven Unter-Bewusstsein verfestigen, dass „der/die Andere“ eigentlich weniger „Mitmensch“ dafür eher Virusüberträger ist? Jeder, der neben mir steht, ob an der Supermarkt-Kasse, als Klassenkamerad oder U-Bahnfahrer, wird zur latenten Gefahr ist. Das jedenfalls üben wir derzeit in unser Bewusstsein ein. Ich bin überzeugt, schon dieses erste Corona-Jahr hat unser Verhältnis zum vertrauten „Bussi-Bussi“ kollektiv so stark verändert hat, dass es über Jahre gestört sein wird. Und wir wissen, dass fehlende Nähe in unseren sozialen Bindungen krank machen kann. Unsere Begrüßungs-Rituale drücken das soziale Verhältnis von Nähe und Distanz aus – dich mag ich – und dich nicht so. Wird es gestört, schwächt es das „Miteinander“. Niemals zuvor sind mir, randbemerkt, so viele Menschen „aus dem Weg gegangen“, wie aktuell. So wird Corona als moderne Seuche in die Geschichte eingehen, die in einer bereits endsolidarisierten Gesellschaft weiteren Schaden anrichtete.
Ich möchte mich mit der Frage „Was kommt danach?“ in der kommenden Ausgabe einer weiteren Frage zuwenden: Welche Veränderungen wird es in der Gewichtung gesellschaftlicher Herausforderungen geben? Werden jene Gruppen, die bereits heute den Stillstand bejubeln (weniger CO2-Emissionen ohne Reisen und Flugverkehr, Reduzierung des Konsumterrors bei geschlossenen Läden) die Gewinner sein? Während zahlreiche Verantwortliche der deutschen Wirtschaft sorgenvoll in die Zukunft blicken, hoffen unermüdliche Weltverbesserer bereits auf eine nachhaltige Verlangsamung des Wachstums und der CO2-Emissionen.
Zusammenfassend möchte ich uns noch einen Rat mit auf den Weg geben: Versuchen wir in Balance zu bleiben, wie ich in vielen Vorträgen immer wieder betonte. Unser Leben ist weder schwarz oder weiß, gut oder schlecht, gesund oder krank, Gewinner oder Verlierer, Krise oder Lebensglück. Das Beispiel von Yin und Yang aus der asiatisch-chinesischen Denktradition hilft beim Verstehen: Leben ist immer alles, und nicht gegensätzlich: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Gesundheit und Krankheit, Glück und Trauer, Krise und Heilung, geben und nehmen. Sie gehören zusammen, bedingen einander. Genau dieses tiefere Verständnis sollte uns leiten.
Jetzt, und nach Corona!