Sonntag, 15. September 2024
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    StartPeopleGespräch mit Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich

    Gespräch mit Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich

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    Zum Thema Schiedsrichter hat jeder Fußballfan eine Meinung. Nicht immer die beste … Der Hamburger Patrick Ittrich ist Schiedsrichter und kennt sie alle. Weil er viele Fragen zu seinem Job erhält, hat er das Buch “Die richtige Entscheidung – Warum ich es liebe, Schiedsrichter zu sein” geschrieben. Mit vielen spannenden Antworten. Dazu hatten wir ein paar Fragen …

    Alster Aktuell: Du bist der einzige, der als aktiver Bundesliga-Schiedsrichter ein Buch über seinen Job geschrieben hat. Warum hast du das Buch geschrieben?

    Weil ich glaube, dass ein aktiver Schiedsrichter mehr Gehör findet als ein ehemaliger. Über ein Buch habe ich schon länger nachgedacht, denn ich bekomme hunderte Fragen, wann reist du an, wie bereitest du dich vor und viele mehr. Der Schiedsrichter ist seit längerer Zeit mehr im Fokus denn je, aber trotzdem behandeln ihn die meisten, als wäre er ein Aussätziger oder Alien … Es war an der Zeit zu verdeutlichen, dass wir ganz normale Menschen sind. Das war der eine Grund, der andere war, dass es Probleme gibt, Schiedsrichter zu gewinnen. Unsere Zahl geht stetig zurück, und das nicht nur im Fußball. Ich möchte mit meinem Buch Leute motivieren, dabei zu bleiben oder denen, die es noch werden wollen, zeigen, wie schön der Job ist.

    Bei uns im Verein mussten wir früher quasi einen Schiedsrichter einkaufen, denn keiner von uns wollte. Warum war das bei dir anders?

    Das war bei mir nicht anders, das war bei mir genauso. Und das ist der Fehler im System.

    Nämlich?

    Ich wurde von Freunden überredet doch auch einen Schiedsrichterschein zu machen. Frei nach dem Motto, unser Verein benötigt einen Schiedsrichter, sonst müssen wir Strafe zahlen, du hast das richtige Alter, mach mal … Es ist doch klar, dass der später sagt: „Okay, ich musste, ich wollte nicht, ich höre wieder auf.“ Bei den meisten ist das so und es werden immer weniger. Man müsste vermitteln – und das versuche ich ja auch immer wieder zu erklären –, dass der Job Spaß macht und dir im Leben hilft, dich voranbringt, anstatt dir zu schaden. Wir müssen anders werben.

    Ein guter Ansatz ist, und das schreibst du ja auch in deinem Buch, dass man umsonst zu Pauli und dem HSV gehen kann.

    Ja, und du bekommst sogar auch ein bisschen Geld für das Pfeifen. Wenn man mit 13 oder 14 einen Schirischein macht und dann E- oder F-Jugend pfeift, merkt man, dass es Spaß macht und es sogar noch etwas Geld gibt. Man darf ja nicht vergessen, dass es ein Ehrenamt ist. Kaum einer macht das dauerhaft, um in die Bundesliga zu kommen. Es macht Spaß und man kann menschlich in seiner Entwicklung davon profitieren und hat zusätzlich 10 Euro in der Tasche. Für mich als 14-Jähriger waren 15 DM damals viel Geld.

    Trafen sich in den Verlagsräumen von Edel Books an der Elbe: Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich (l.) und Chefredakteur Kai Wehl.

    Du hast in deinem Buch geschrieben, du siehst dich, auch wenn du nicht gegen den Ball trittst, als Fußballer, denn du bist Teil des Spiels. Find ich ungewöhnlich. Tun das Kollegen von dir auch?

    Eigentlich sind alle Schiedsrichter gute Fußballer, etwa Daniel Siebert, der am Ende des Buches vorkommt, Daniel Schlager oder Manuel Graefe. Alle, die ganz oben pfeifen, haben mal gegen den Ball getreten und wissen, wie das Spiel funktioniert. Diese Kenntnisse helfen, ein Spiel gut zu leiten. Wir sind dafür da, dass die Regeln eingehalten werden, vor allem aber auch, den Spielfluss zu gewährleisten, Vorteile zu erkennen damit gegebenenfalls Tore fallen. Das will ja auch jeder Fußballer und deswegen sind wir Teil des Spiels. Somit ist die Aussage richtig.

    Wie du schon sagst, leitest du das Spiel und hast entscheidenden Einfluss und Macht. Gerade bei engen Ergebnissen mit einem Tor Unterschied kann der Schiri das entscheidende Rädchen sein. Ist das eher eine Last oder ein Machtgefühl das Spaß macht?

    Tja, und da sind wir wieder an dem Punkt, der häufig angesprochen wird. Wenn man die Macht auf den Job des Polizisten oder des Schiedsrichters bezieht, hat das einen negativen Touch. Frei nach dem Motto: Früher hatte er eh nichts zu sagen, jetzt hat er den Job gewählt und kann es allen ordentlich zeigen. Das ist totaler Quatsch, zumindest auf meine Person bezogen. Ich habe eine Entscheidungsmöglichkeit und das hat bei mir etwas mit Gerechtigkeit und Objektivität zu tun.

    Gerechtigkeit klingt gut, und für die soll ja auch der umstrittene Videobeweis sorgen. Wie stehst du zu ihm?

    Vorher muss ich etwas aufklären: Das heißt Video Assistent. Den Begriff Videobeweis gibt es nicht…

    Der wird aber überall verwendet.

    Ja, ist aber falsch. Es gibt das Video Assist Center in Köln mit dem Video Assist Referee (VAR) – so lauten die korrekten Begriffe.

    Bei jedem Fan heißt es Videobeweis.

    Weiß ich. Aber ich bin dafür da, es euch richtig zu erklären. Ist auch nicht so schlimm. Ich sehe das sehr positiv, weil es die ganz dicken Dinger vermeidet. Die passieren jedem Schiedsrichter mal, durch den VAR werden sie verhindert. Über den Ermessenspielraum dabei wird man sich immer streiten, weil Menschen dahinterstehen, aber ich stehe sehr positiv dazu.

    Du bist ja selber etwa sechsmal im Jahr VAR in Köln. Wie fühlt sich das an?

    Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Man ist dort nicht Spielleiter. Als der leitet man ja das ganze Spiel und sorgt für den geregelten Ablauf. Als VAR hast du nur einzelne Szenen, die du bewerten musst. Dafür gibt es zwar bestimmte Kriterien, aber die sind sehr schwer umzusetzen, da wir inzwischen so viele Kameras mit den verschiedensten Blickwinkeln haben. Das ist manchmal gar nicht so einfach wie man es sich vorstellt – man schaut sich 16 Bilder an und sieht auf dem 17. erst einen klaren Fehler. Deswegen dauert es manchmal so lange, die richtige Meinung zu bilden. Das erzeugt schon einen gewissen Druck. Aber lieber länger und richtig, als kurz und falsch.

    Pfeift seit 2016 in der 1. Bundesliga: der Bergstedter Patrick Ittrich. © Michael Philipp Bader

    Macht das Spaß in Köln?

    Es ist eine reizvolle Aufgabe, aber ich laufe nicht jubelnd durch die Gegend, denn ich stehe lieber auf dem Platz.

    Auf dem Platz sieht es immer etwas doof aus für den Schiri, wenn der VAR Entscheidungen oder Tore zurücknimmt. Ist dir ja auch schon mal passiert. Pfeift man danach anders, kleinlicher?

    Nein, sonst wäre man nicht professionell genug für den Job da oben. Man muss derartige Szenen sofort abhaken, denn die nächste genauso entscheidende Szene kann sofort danach kommen. Am Anfang waren die Situationen natürlich in der Tat etwas ungewohnt, aber inzwischen haben sich alle daran gewöhnt, bei einer VAR-Entscheidung eventuell zum Bildschirm zu laufen und die Szene noch einmal anzuschauen. Aber am Ende, und das ist elementar für das Spiel, steht die richtige Entscheidung.

    Es hat also keine Alibifunktion, im Endeffekt ist man eher dankbar?

    Ja. Der Ärger kommt allerdings im Nachhinein: Warum hast du das nicht gesehen? Es ärgert mich maßlos, wenn ich eine Situation nicht gesehen habe oder hätte sehen müssen. Wenn es zum Beispiel keinen Strafstoß gibt und das korrigiert wird, kann ich das komplett wegtun, mir ist nur wichtig, dass das Spiel korrekt läuft, aber wenn das Spiel zu Ende ist, gehe ich mit mir in die Kritik und ärger mich. Ich bin der erste und schärfste Kritiker.

    Und deine Frau?

    Nein – die kritisiert mich wegen anderer Sachen (lacht)

    Du schilderst in dem Buch ja einige Negativerlebnisse. Was war denn aus heutiger Sicht das schlimmste?

    (überlegt) Da muss man persönlich und sportlich unterscheiden. Persönlich war natürlich die Sache mit Barak Rafati schlimm. Aber Ähnliches trifft ja auch für Personen in anderen Bereichen zu, die nicht so in der Öffentlichkeit stehen, wie etwa Feuerwehrleute oder Sanitäter. Auch sie retten Menschenleben und man liest nichts darüber. Wir können aber guten Gewissens sagen, wir haben dem Mann geholfen. Und dann gibt es natürlich Spiele, bei denen es nicht gut gelaufen ist, die bleiben einem in Erinnerung – aber es gibt viel, viel schlimmere Dinge und ein Fußballspiel, das man als Schiedsrichter an die Wand gesetzt hat, ist ärgerlich und kann einen ein paar Tage belasten und beschäftigen, aber man muss das irgendwann abhaken. Und es ist nie so schlimm wie lebensbedrohliche Dinge.

    Und wie sieht es auf der positiven Seite aus?

    Da gibt es einiges. Vor allem ab der Kreisliga, denn man pfeift dann nicht mehr alleine. Ich war mit alten Haudegen unterwegs, die mich gefördert und begleitet haben, als Team. Und das brauche ich, denn ich bin ein Team Player – ein Mannschaftssportler – und so macht es am meisten Spaß. Man stellt auch schnell fest, dass man von Spiel zu Spiel, von Liga zu Liga immer mehr Selbstbewusstsein aufbaut. Ich wurde besser und größer und habe relativ schnell die Klassen übersprungen. Es ging auch mal abwärts, das gehört auch zur Lebensschule dazu, aber am Ende mündete es im ersten Bundesligaspiel, das ich 2016 gepfiffen habe. Ein toller Moment.

    Du bist ja Polizist und hast vier Töchter. Das muss man erst mal alles unter einen Hut bekommen. Wie hältst du denn deine Frau bei Laune, die ja sicherlich einen großen Anteil daran hat, dass du so durch die Welt reisen kannst?

    Ja, … Zeit nutzen, die man hat. Wenn man das nicht tut, kann sie irgendwann weg sein. Deswegen muss man Freiräume zusammen nutzen und sich gut absprechen. Entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Das gilt aber für jede Beziehung, auch wenn man nicht so viel zu tun hat wie ich. Wenn man nicht miteinander redet, dann funktioniert es nicht und das geht jedem so.

    Du hast geschrieben, du liebst es Verkehrserzieher zu sein. Muss du das als Schiedsrichter nicht auch sein? Manchmal kommen mir die Profis vor wie kleine ungezogene Kinder. Also vergleichbar …

    (lacht) Das mag einem so vorkommen, aber so ist es nicht. Das Spielen mit Puppen vor Kindern ist natürlich etwas ganz anderes. Ein toller Ausgleich zum Leben auf dem Fußballplatz.

    Wie haben deine Kollegen das Buch aufgenommen?

    Gut, soweit ich bis jetzt gehört habe. Natürlich gefällt es sicherlich nicht allen, aber ich bin von Anfang an offen damit umgegangen und habe mein Vorhaben angekündigt. Da es ja kein Enthüllungsbuch ist, sondern unseren Job und meine Begeisterung für ihn beschreibt, gab es keine Probleme.

    Musstest du dir etwas von der Seele schreiben? Hat das Buch etwas mit dir gemacht, fühlst du dich jetzt freier?

    Nein. Das war nicht der Ansatz. Das Gefühl, noch etwas Unausgesprochenes, Wichtiges sagen zu müssen, hat man möglichweise auch erst nach der Karriere, wobei das bei mir nicht zutrifft. Ich möchte wirklich dem Leser näherbringen, wie toll der Schiedsrichterjob ist und wie viel Spaß er bringt.

    Patrick Ittrich mit Mats Nickelsen, Die richtige Entscheidung – Warum ich es liebe, Schiedsrichter zu sein, EDEL Books, 224 Seiten, Klappbroschur, 18,95 Euro
    Aufmacherfoto: © Michael Philipp Bader
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